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Der Ozean

Eine der gefährlichsten Fallen, in die der Suchende nach der Wahrheit stolpern kann, ist es, sich rationale Konzepte von absoluter Realität zu machen. Anstatt Götterbilder zu schnitzen und zu verehren, erschafft man Bilder des Geistes. Viele neuere Konzepte werden gar mit wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert, vor allem jenen aus der Quantenphysik, um sie glaubhafter zu machen.

Ein beliebtes Konzept beispielsweise ist das Gleichnis vom Ozean.

Die Weite und Tiefe des Ozeans hat viele inspiriert, ihn als Symbol für den Urgrund allen Seins zu nehmen, für die wahre Realität, für die Einheit und für das "Ich-bin-das-Ich-bin". Während der Ozean selbst ewig und unwandelbar ist, steht die Oberfläche dieses Ozeans symbolisch für unser Universum. Lebewesen sind wie Wellen, die sich als Individuen identifizieren, weil sie räumlich getrennt sind. In Wirklichkeit sind sie eins, denn sie sind alle Teile des Ozeans oder der einen Realität. Sie wandern eine Zeit auf der Oberfläche umher und agieren miteinander, bevor sie schließlich zur Ewigkeit und Einheit des Ozeans zurückkehren.

Der Ozean ist geistiger Natur, was bedeutet, dass der Geist die Form erschafft, und nicht die Materie den Geist. Unsere eigene individuelle Welt wird durch unser individuelles Bewusstsein bestimmt. Unser wahres Selbst hat also Anteil an der Realität und Ewigkeit des Ozeans, aber unser individuelles Tages-Bewusstsein macht uns vor, wir wären endlich und begrenzt.

Wissenschaftliche Theorien, die diese esoterische Sichtweise untermauern, gibt es einige. Professor Robert Lanza, von der Wake Forest University School of Medicine in North Carolina, zum Beispiel behauptet, dass Leben das Universum erschafft, nicht umgekehrt und dass unser Bewusstsein die Form und Größe der Objekte bestimmt. Er nennt seine Theorie "Biozentrismus", die er mit dem bekannten Doppelspalt-Experiment begründet:

Wenn Wissenschaftler ein Teilchen beobachten, dass zwei Spalten passiert, geht das Teilchen entweder durch den einen Spalt oder den anderen. Wenn aber keine Person es beobachtet, wirkt es wie eine Welle und kann durch beide Spalten gleichzeitig gehen, wobei auf einer dahinter liegenden Wand ein Interferenzmuster gebildet wird. Das bedeutet, das Verhalten des Teilchens ändert sich je nach Wahrnehmung einer Person. Oder anders ausgedrückt: Das Bewusstsein bestimmt die Realität, und Raum und Zeit sind nur Werkzeuge des Geistes.

Auch andere wissenschaftliche Theorien untermauern die Sicht, dass das Bewusstsein die Materie beeinflusst oder sogar erschafft, wie z.B. der Quanten-Zeno-Effekt und Aspekte der Quantenverschränkung. Der ehemalige Cern-Wissenschaftler Dr. Bernardo Kastrup meinte sogar, dass unser physikalisches Universum das Abbild der Summe unserer Mentalprozesse sei.

Eine logische Konsequenz dieses Weltbildes ist es, dass "Ich" und "Du" und alle Dualität an sich nur Illusion ist. Es gibt nur das ewig Eine: "Ich bin du!" Weiterhin ist es logisch, dass wenn Gott eins ist, es nichts wirklich neben Ihm geben kann, und dass wir also eins mit Ihm sein müssen. Wir sind alle eins mit dem Urgrund des Seins, und nur die Illusion unseres individuellen Bewusstsein trennt uns! Aber letztlich kehren wir alle wieder zur Einheit zurück, nachdem wir unsere Lern- und Bewusstseinserfahrungen gemacht haben: "Wahrlich, wir sind Gottes, und zu Ihm ist die Rückkehr!" Ist das nicht die esoterische Aussage aller Religionen?

Haben diese tiefere Wahrheit nicht auch Sufis ausgesprochen wie Mansur al-Halladsch, der einen der bekanntesten Aussprüche eines Sufis prägte: "Ana al-Haq"? (Dieser Ausspruch lautet übersetzt "Ich bin die Wahrheit", wobei Haq nicht nur Wahrheit bedeutet, sondern auch einer der Namen Gottes ist. Somit kann man auch übersetzen: "Ich bin Gott" oder "Ich bin wahre (absolute) Realität".) Er war also einer, der die Einheit und wahre Realität realisiert hatte, genau wie jene, die Nirvana oder Samadhi erreicht haben, nicht wahr?

Nun, Mansur al-Halladsch wurde wegen Blasphemie hingerichtet. Er wurde nicht nur von der islamischen Orthodoxie verurteilt, wie das heute oft dargestellt wird, sondern auch von den damaligen Sufis scharf kritisiert. Der berühmte Sufi-Meister al-Dschunayd von Baghdad, bei dem Halladsch lernen wollte, wies ihn ab mit der Begründung, er unterrichte keine Wahnsinnigen. Auf die Äußerung "ana al-Haq" erwiderte Dschunayd: "Nicht so! Aber durch al-Haq existierst du."

Es ist wahr, der Tassauwuf, den Dschunayd und die großen Sufis jener Zeit lehrten, spricht von einem spirituellen Zustand der Vereinigung (Jam'), bei der man nicht mehr in der Lage ist, die geschaffene Welt zu betrachten, vom eigenen Selbst ausgeschlossen wird und man unter völliger Macht des Realen steht. Aber selbst hier gilt der Grundsatz: "Der Diener bleibt der Diener, und der Herr bleibt der Herr!" Während des mystischen Zustands von Jam' macht der Diener ekstatische Gotteserfahrung, die mit keinerlei mentalem Konzept vermischt ist.

Warum das obige Beispiel vom Ozean und andere Konzepte von Einheit, wahrer Realität oder Gott strikt abgelehnt werden, und zwar in allen monotheistischen Religionen ("Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen"), ist im Prinzip einfach zu verstehen:

Gott ist eins. Aber jede "Vor"-Stellung ist dual und impliziert Subjekt und Objekt. Auch ein symbolisches Bild braucht einen Betrachter. Man kann Einheit nicht denken, und deswegen ist jedes Bild von Einheit eine Täuschung, und speziell von Gott eine Blasphemie.

Gott ist außerdem jenseits aller Begrenzung, also jeglicher Definition, und damit zwangsläufig auch jenseits jeden geistigen Konzeptes. Die konsequenteste Auslegung der Einheit Gottes ist daher das islamische Glaubensbekenntnis: "La ilaha illallah" - Es gibt keinen Gott außer Allah, d.h. nichts ist real außer der absoluten Realität. Es beginnt mit einer Verneinung, da alles, was wir kennen und mit unseren Sinnen, unserer Vorstellung oder unseren Gedanken erfassen können, eben nicht Gott ist! Kein Bildnis oder Gleichnis, so symbolisch es sein mag, kann absolute Realität erfassen.

Nur will man das oft nicht wahrhaben. Zu verliebt ist man in die eigenen Ideen. Es ist wie ein Virus. Wenn man erstmal seinem vorwitzigen Verstand erlaubt hat, der Logik zu folgen: "Ich denke, also bin ich." -> "Ich bin real" -> "Es kann nur eine wahre Realität geben. Diese eine absolute Realität wird Gott genannt - der Ozean." -> "Ich bin eins mit dem Ozean!" -> "Ich bin Gott", ist es nur schwer, sich wieder davon zu befreien. Man ist mächtig stolz, dieses offen daliegende Geheimnis durchschaut zu haben, während die Masse der Menschen noch in blinder Ignoranz verhaftet ist und den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.

Und wenn man zu ihnen sagt: "Glaubt, wie die Menschen glauben!", so sagen sie: "Sollen wir glauben, wie die Dummköpfe glauben?" Dabei sind sie doch die Dummköpfe. Aber sie wissen es nicht. (al-Baqarah 13)

Der Koran aber zeigt ein recht einfaches Mittel auf, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu finden. Er erzählt die Geschichte von Ibrahim a.s., der mit jemanden stritt, der sich für Gott hielt.

(Damals) als Ibrahim sagte: "Mein Herr ist Derjenige, Der lebendig macht und sterben lässt." Er (der Ungläubige) sagte: "Ich mache lebendig und lasse sterben." Ibrahim sagte: "Allah bringt die Sonne vom Osten her; so bringe du sie vom Westen her!" Da war derjenige, der ungläubig war, verblüfft. Und Allah leitet nicht das ungerechte Volk. (al-Baqarah 258)

Wenn man glaubt, man habe die gleiche Realität wie Gott und das Bewusstsein bestimme die Formen, dann lasse man doch einfach Milch statt Wasser vom Himmel regnen. Die Einsicht in die eigene Machtlosigkeit ist das beste Mittel, sich von diesem Irrtum zu befreien.

Der vorwitzige Verstand wird sich aber wahrscheinlich so einfach nicht geschlagen geben und weiter argumentieren wollen:

"Nein, nein, so ist es ja nicht! Momentan identifizieren wir uns ja als Welle und nicht als Ozean. Wir sind in dieser Illusion gefangen. Deswegen sind wir nicht allmächtig. Aber je mehr wir diese Illusion überkommen, desto mächtiger werden wir, wie Jesus, der Tote auferweckte und über Wasser schritt."

Ja, Jesus hatte zwar mit der Erlaubnis Allahs Wunder vollbracht, aber er war nicht allmächtig, noch war er allwissend, noch hatte er den gleichen Willen wie Gott. Er war ein Diener Gottes und preiste Gott und betete Ihn an. Will man sich selber anbeten?

Wie soll man denn all die Qualitäten erlangen, die nötig sind, um sich Gott zu nähern, wenn man auch nur den leisesten Gedanken hat, man wäre selber Gott? Wie kann man zum Beispiel Gottesfurcht haben? Kann man Angst vor sich selber haben? Wie kann man Dankbarkeit haben? Kann man sich selber dankbar sein? Wie kann man Demut entwickeln, wenn man glaubt, man sei eins mit dem Allmächtigen?

Aber immerhin haben wir den Verstand bereits dazu gebracht zuzugeben, dass wir in einer Illusion gefangen sind! Unser eigenes polar-operierendes Denken führt uns nämlich paradoxerweise zu folgenden Schlüssen:

- Die rationalen Bilder von Realität sind meistens weder falsch noch richtig, sondern einfach inadäquat. Licht hat z.B. die Funktionen von Welle und Teilchen. Dies macht aber logisch-rational keinen Sinn. Etwas, was sich als gerader Strahl fortbewegt, kann sich doch nicht gleichzeitig auch als Welle fortbewegen, würde die Logik argumentieren. Naturwissenschaft, die ja auf rationalem Denken aufbaut, führt sich also selbst ad absurdum. Elektronen, die als kleine Bälle um das Proton schwirren, gibt es so nicht, sondern sind nur menschengemachte Bilder, die Realität begreifbar (und vor allem beherrschbar) machen sollen. Basierend auf solchen Bildern kann man erstaunliche Technologien entwickeln, was die Illusion fördert, diese Bilder wären die Wahrheit. Doch siehe da, dieser sogenannte technische Fortschritt zerstört das Leben unseres Planeten! Aber nie wird das rationale Denken dafür verantwortlich gemacht!

- In der Religion führen verstandesmäßig-generierte metaphysische Bilder zu Irrlehren oder gar zu Blasphemie und zu einem fatalen Mind-Set, der die Seele auf der spirituellen Ebene zerstört, genau wie die auf rationalem Denken aufbauende Technik das Leben auf der materiellen Ebene zerstört.


Machtvolle Bilder, auf der die Technik aufbaut.
Aber sie sind nicht "die Realiät"!

Hier erinnere man sich, dass Gott Adam und Eva ausdrücklich davor gewarnt hatte, vom Baume der Erkenntnis zu essen. Als aber Adam der Versuchung verfiel, fing er an, Realität polar wahrzunehmen (symbolisiert durch das Erkennen der Scham, also der Polarität männlich-weiblich). Dies war die Konsequenz vom Baume der Erkenntnis zu essen, denn Polarität ist eine Bedingung, um Erkenntnis zu bekommen: Wir können nur wissen, was kalt ist, wenn es heiß gibt; wir können nur wissen, was gut ist, wenn es schlecht gibt und so weiter. Und genau wie Satan versprochen hatte, ermöglicht diese Wahrnehmung dem Menschen, dank Technik immer mehr gottgleiche Fähigkeiten zu entwickeln. Aber Adam erkannte, dass er sich selber in der Dualität gefangen hatte, und dass diese Art von Wissen nicht zur Glückseligkeit führte, sondern zur Selbstzerstörung. Mit dieser polaren Wahrnehmung könnte er niemals den richtigen Weg finden und wäre verloren.

Und als sie von dem Baum kosteten, wurde ihnen ihre Scham offenbar und sie begannen, sich mit den Blättern des Gartens zu bekleiden; und ihr Herr rief sie: "Habe Ich euch nicht diesen Baum verwehrt und euch gesagt: "Wahrlich, Satan ist euer offenkundiger Feind"?" Sie sagten: "Unser Herr, wir haben gegen uns selbst gesündigt; und wenn Du uns nicht verzeihst und Dich unser erbarmst, dann werden wir gewiss unter den Verlierern sein." (al-Araf 22-24)

Der Abstieg vom Paradies in diese polare Welt war ein unvermeidliches Resultat, aber Allah sprach:

"Wir sagten: Geht alle fort von ihm (dem Paradiesgarten). Wenn nun von Mir Rechtleitung zu euch kommt, dann soll über diejenigen, die Meiner Rechtleitung folgen, keine Furcht kommen, noch sollen sie traurig sein. Diejenigen aber, die ungläubig sind und Unsere Zeichen für Lüge erklären, das sind Insassen des Höllenfeuers. Ewig werden sie darin bleiben." (al-Baqarah 38)

Tiefere Einsichten in wahre Realität sind Gottesgeschenke. Sie fußen nicht auf rationalen Überlegungen, eigenen Ideen und selbstgemachten Bildern, sondern werden einem offenbart. Man erfährt Wahrheit und erkennt Zeichen von Gott durch lubb, ein Wort, dass ‚Kern' oder ‚Samen' beinhaltet, und in erster Linie eine intuitive Eingebung meint und nicht ein verstandesmäßiges Konstrukt. Der daraus folgende Zustand ist Iman (sichere Überzeugung). Man "sieht" und "hört" die Wahrheit bzw. die Zeichen, man denkt sie nicht.

Jemand fragte al-Shibli: „Erzähle uns von der reinen Einheit mit der Sprache der außergewöhnlichen Wahrheit (haqq mufarrad)!“ Er rief aus: „Wehe dir! Wer mit gewöhnlichen Ausdrücken über die Einheit spricht (aboutibara), ist ein Ketzer (mulhid); wer allegorische Anspielungen darauf macht (ashara), ist Dualist; wer darauf zeigt, ist ein Anbeter von Götzen; wer es ausdrückt (nataqa), ist eindeutig rücksichtslos (ghafil); wer darüber schweigt, ist unwissend; wer ahnt, dass er zu seiner Verwirklichung gelangt ist, ist erfolglos; wer glaubt, Ihm nahe gekommen zu sein, ist in der Tat weit davon entfernt; wer denkt, dass er es in seiner Ekstase gefunden hat, wird es verlieren. Und jedes Mal, wenn du denkst, dass du in der Lage bist, seine Bedeutung durch deine Vorstellungskraft zu erkennen und seine Bedeutung durch deinen Intellekt auf die vollkommenste Weise zu erreichen, kommt es zu dir zurück, zurückgewiesen, zeitlich und vorübergehend wie du selbst.".

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